Mit 80 km/h der Säure entgegen - mit 15 km/h der Heimat
Den Lenker fest umklammert, den Blick durch die
Sonnenbrille
nach vorne gerichtet. Auf dem Rücken mein Rucksack. Spikes, Wasser und mein Trikot machen sein Gewicht aus. Später werden sie noch zum Einsatz kommen. Die Riemen sind fest angezogen, er darf sich
nicht bewegen. Heftiger Fahrtwind pfeift mir durch den Helm: Es rauscht nur noch, ich
höre nichts anderes mehr. Mein Gehör ist vom Fahrtwind erfüllt. In meiner tief geduckte Haltung geht es auf die entscheidende
Gerade zu; nur noch eine Kurve. Jetzt habe ich mein Fahrrad lang genug rollen
gelassen, nun ist Beinarbeit gefragt. Die Straße führt auf ein längeres
Stück gerade aus. Der Asphalt fällt bergab, er ist sauber, die Straße breit - es ist
bereitet. Noch ein
letztes Mal drehe ich mich um, mein Cousin (Bild unten links) folgt mir auf 5 Meter Entfernung. Ich
weiß, dass er schnell ist, ich weiß, dass er es heute auch schaffen will.
Seine aerodynamische Haltung verrät sein Vorhaben, verrät unser Vorhaben. Vorne bekommt das größte Kettenblatt langsam die volle Kraft meiner
Pedalumdrehungen zu spüren, hinten dreht sich das Kleine mit irrsinniger
Geschwindigkeit. Die Ärmel meines T-Shirts flattern im Wind, meine kurze
Hose tut es ihnen gleich. "Nächstes mal eine Radlerhose" schießt es
mir durch den Kopf. Ich trete voll rein, die nächste Kurve wird mich wieder zum
Bremsen zwingen. Es pfeift, es rauscht, ich kurble was das Zeug hält. Was mein
Cousin macht weiß ich nicht, ich kann mich jetzt nicht umdrehen, muss die Aerodynamik
voll ausnutzen. Jegliche Angriffsfläche für den Wind muss minimiert werden. Die Digitalanzeige meines Tachos steigt auf über 70 km/h.
"Weiter, weiter!" Der höchste Gang meines Rades greift langsam nicht mehr. Ich
muss die Drehzahl erhöhen, darf den Punkt nicht verlieren, an dem die Übersetzung noch Kraft überträgt. Ich spüre Säure in meinen Muskeln,
befinde mich schon im anaeroben Bereich. Egal, die 80 sind heut drin, nicht
aufhören. Meine Lunge ist in vollem Einsatz. Die Hände umgreifen verbissen den
Lenker. Die Anzeige stagniert bei 75 km/h. Noch einmal alles geben, es
muss doch noch was gehen. Doch die nüchterne Erkenntnis, dass ich nichts mehr
rausholen kann stellt sich sofort ein. Die Gerade endet gleich, die nächste Kurve fliegt heran.
Ich höre auf zu treten, richte mich auf und ziehe die Bremsgriffe zum
Anschlag, lasse die Beine ruhen. Wo ist mein Cousin? Ich dreh mich um. Doch ehe ich meinen
Oberkörper in Bonbonverpackungszudrehmanier um eine viertel Drehung verlagere zischt er vorbei. Er reizt die Gerade voll aus, doch gleich darauf richtet auch
er sich auf. Auch er hat gut übersäuert, hat ganz schön zu schnaufen. Doch
erreicht haben wir unser Ziel immer noch nicht. 5 km/h haben noch gefehlt.
"Wir brauchen ein größeres Kettenblatt oder wir fahren Windschatten, so
dass der eine am Ende noch zulegen kann." Es musste ein Mittel geben um die
Schallmauer zu durchbrechen. Wir würden es erneut versuchen . Doch jetzt ging
es erst mal weiter. Wir ließen die restlichen 4 Kilometer bis ins Training
ruhig angehen. Wie auch anderes, wenn wir uns von so einer Vorbelastung erholen
mussten.
Jetzt freuten wir uns aufs Tempotraining, auf der
Bahn. Kurze Läufe, die meist in selben Maße zur Übersäuerung führten. Doch
das machte uns nichts aus. Ganz im Gegenteil, ich kann mich nach diesen
Fahrradfahrten ins Training an meine besten Tempolaufzeiten erinnern. Eine
1:16min über 500m oder eine 2:49min über 1000m stehen da im Raume. Es ist auch
immer wieder ein komisches Gefühl, wenn wir nach dem Fahrrad fahren in den
Laufschritt übergehen. Das Einlaufen haben wir bitter nötig. Doch man kann nicht sagen, dass diese kleine Raserei bergab ein Vergleich zu dem
darstellte, was wir nach diesen teilweise brutalen Tempoläufen auf uns nehmen.
6km ist die Strecke, die uns von zu Hause trennt.
Aber dies sind keine flachen Kilometer, vielmehr ist es eine Strecke, die 6km
lang bergauf führt. Die Weinberge oder den Radweg neben der Hauptstraße hinauf
haben wir zu Auswahl. Die Ermüdung entscheidet über die Strecke. So nehmen wir mit unseren stark übermüdeten und
ausgepumpten Körpern immer wieder diese "Tour de Farce" in Angriff.
Mit frisch aufgefüllten Wasserflaschen und verschwitzten Körpern treten wir
den Berg hinauf. Meist mit freiem Oberkörper, mit eisernem Willen. Wir fahren
oft hintereinander um die schnellstmögliche Zeit zu erreichen. Uns geht es
schon lange nicht mehr um das Ankommen. Die Zeit hinauf ist unser Ziel. So
versuchen wir auch hier Rekorde zu erzielen. Der
Rekord steht bei 20 Minuten - 20 Minuten Schinderei. 23 Minuten hab ich gebraucht, als ich dieses Jahr das erste
Mal gefahren bin. Allerdings ohne ein besonders hartes Training. Dies zeigt die
Wertigkeit
unseres Rekords.
Mal im Stehen, mal im Jan-Ullrich-Tritt. Zuhause sind wir dann platt aber zufrieden. Ein kühles Apfelschorle, die herrliche Abendatmosphäre und eine frische Dusche sind unsere Belohnung. Dies tun wir nicht weil wir es müssen oder weil es keine andere Möglichkeit gibt. Wir wollen mit dem Fahrrad fahren, wir wollen diese Anstrengungen auf uns nehmen. Nicht weil wir etwa einer Gattung der Masochisten angehören, nein es war und ist dass was die Unvernunft ausmacht, es ist dass was einen an die Grenzen gehen lässt. Eine Art des Lebens, des Leidens.
Unvernunft wird bei uns eben Groß geschrieben. Spaß und das Außergewöhnliche aber auch.
"Die meisten Dinge, die uns Vergnügen bereiten, sind unvernünftig."
Charles-Louis Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu (1689 - 1755), französischer Staatstheoretiker und Schriftsteller
Vielen Dank für den Link bei laufen-aktuell.de
Stefan Faiß (12.04.2003)